Die Entstehung einer psychischen Krankheit ist ein sehr komplexer Vorgang, der gerade wegen seiner Komplexität wenig empirisch erforscht und schlecht in seiner Gesamtheit zu erkennen ist. Bei den meisten psychischen Krankheiten können aber entsprechende Entwicklungsprozesse rekonstruiert und als Entwicklungshierarchien modellhaft aufgezeichnet werden. In der Regel lässt sich für alle psychischen Krankheiten eine typische Dreigliederung der Entwicklungsfaktoren finden:

      Der erste Faktor kann in einer "erbgenetischen Prädisposition" begründet liegen, deren Aufschlüsselung noch einer weiteren wissenschaftlichen Erforschung bedarf. Es sind vor allem die Ergebnisse der Zwillingsforschung, die nahe legen, dass nicht nur einfache und unspezifische Grundschemata vererbt werden, sondern auch sehr differenzierte und komplexe Verhaltensprädispositionen.
      Als zweiter Krankheitsfaktor lässt sich in der Regel ein mehr oder weniger grosses "unspezifisches Ich-Struktur-Defizit" in der Entwicklungshierarchie identifizieren. Dieses Defizit kann im Rahmen der Gruppendynamik der Primärgruppe vorgeburtlich, geburtstraumatisch oder nachgeburtlich verursacht sein. Seine Grösse hat Einfluss auf die Tiefe der ich-strukturellen Störung und auf die Prognose für eine psychotherapeutische Rekonstruktion.
      Der dritte Faktor stellt eine "symptomspezifische Lerngeschichte" dar, die bis ins letzte Detail alle Lernbedingungen bzw. Lernfelder enthält, die zum funktionalen Verständnis der Entstehung des bestimmten Krankheitsbildes notwendig sind. Es scheint, dass sich dabei die Pathologie der Gruppendynamik der Primärfamilie in die Symptomatik der verinnerlichten Psychodynamik verwandelt. Ich meine, dass sich alle psychischen Krankheiten, seien es nun die psychosomatischen Reaktionen, die Suchtkrankheiten, die Perversionen, kriminelle Verhaltensweisen, Zwangskrankheiten, das Borderline-Syndrom, die Schizophrenien usw. in dieser Weise lerngeschichtlich aufklären und in ihrer Symptomatik verstehen lassen.